Lörrach „Hier fühle ich mich nicht behindert“

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Serie Be-hindert – Teil 3: Tag für Tag ist Theaterkoch Edwin Engeser beim Freien Theater Tempus fugit anzutreffen

Lörrach - Das Wort Inklusion – zentraler Begriff der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 – ist in aller Munde. Doch was ist darunter genau zu verstehen? Dass von der konkreten Interpretation und Ausgestaltung dieses Begriffs einiges abhängt, zeigt der Fall von Edwin Engeser aus Lörrach.

Der 25-Jährige mit Downsyndrom ist seit Januar dieses Jahres beim Freien Theater Tempus fugit als Theaterkoch angestellt. Als solcher kümmert er sich nicht nur um den regelmäßigen Mittagstisch des 25 bis 30-köpfigen Teams im Theater – „immer mittwochs“ – sondern auch um die Verpflegung bei „Außeneinsätzen“, etwa jüngst beim Projekt „Zivilcourage“ im Hebelgymnasium. Nicht zuletzt steht er selbst als Schauspieler auf der Bühne, bei Gemeinschaftsproduktionen, aber auch in dem ihm und seinem Partner Martin Kilwing auf den Leib geschriebenen Zwei-Mann-Stück „Dieses Blicken“. Engeser ist ein besonderer Mitarbeiter, der sich zusammen mit Tempus fugit entschlossen hat, neue Wege zu gehen. Die Agentur für Arbeit unterstützt das Arbeitsverhältnis mit einem Lohnkostenzuschuss im Rahmen des Programms „Arbeit inklusiv“. Bis Mitte 2019 wurde der ehemalige Schüler der Waldorfschule Schopfheim zudem von Margarethe Gamerith als Job-Coach unterstützt. Sie begleitete den jungen Mann während seiner beruflichen Qualifizierung zum Theaterkoch in Zusammenarbeit mit der Pestalozzi-Schule.

Seitdem steht Edwin Engeser alleine da. Weil er aber nach wie vor auf ein Gegenüber angewiesen ist, um seine Arbeit möglichst selbständig bewältigen zu können – bei Fragen, aber auch wenn es um die Erstellung des Wochenplans oder um die Abrechnung von eingekauften Lebensmittel geht – ist er nach wie vor auf Assistenz angewiesen. Diese stehe ihm als Mensch mit Behinderung zu, betont Benjamin Böcker, langjähriger Mitarbeiter bei Tempus fugit, der sich in seinem Masterstudium „Systementwicklung Inklusion“ schwerpunktmäßig mit der gesellschaftlichen Integration und dem Abbau jeglicher Art von Barrieren für behinderte Menschen beschäftigt. An dieser Stelle kommt Tina Enz ins Spiel. Die Heilpädagogin ist Tempus fugit seit 2013 verbunden, gehört mittlerweile zu den zwölf festangestellten Mitarbeitern des Freien Theaters, 15 Stunden wöchentlich davon als Unterstützung für Edwin Engeser. Den Menschen mit seinen Ressourcen wahrzunehmen und diese weiterzuentwickeln, darin sieht Tina Enz ihre Aufgabe. Engeser könne sich bei Bedarf an sie wenden und sie um Unterstützung bitten, wenn er dies für nötig halte. Ihr Honorar wird allerdings bisher von Edwin Engesers Familie privat übernommen.

Einer weiteren finanziellen Unterstützung hat der Integrationsfachdienst beim Landratsamt bisher nicht zugestimmt. Als Begründung werde genannt, Engeser verfüge nicht über die nötigen Kernkompetenzen für seinen Job und leite seine Assistenz nicht an, sondern werde vielmehr von dieser angeleitet; er sei daher „nicht erwerbsfähig“, berichtet Böcker, der sich ebenso wie Tina Enz mit dieser Ablehnung nicht zufriedengeben will. Schließlich nehme Tempus fugit Engesers Dienste als Koch ganz konkret in Anspruch – Lieblingsgerichte sind Nudeln mit Fleischsoße (beim Koch) und Kartoffeln mit Quark (beim Team). Ganz zu schweigen von seinem sonstigen Engagement als Schauspieler und Mitarbeiter in theaterpädagogischen Projekten. Das inklusive Theaterstück „Dieses Blicken“ befindet sich zur Zeit im zweiten, dieses Mal umgearbeiteten Durchgang, und soll später einem dritten Teil fortgesetzt werden, in dem Engeser und Kilwing dann Regie führen, so der Plan.

Nicht zuletzt verstehen Böcker und Enz mit dem ganzen Tempus-fugit-Team im Rücken ihren Einsatz für eine Assistenz für ihren Angestellten Edwin Engeser als Schritt in Richtung eines anderen Umgangs mit behinderten Menschen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 2007 unterzeichnet hat. Dort ist die gesellschaftliche Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung für Menschen mit Behinderung festgeschrieben. Geht es nach Edwin Engeser, seiner Familie und den Mitarbeitern, ist genau dies bei Tempus fugit erfüllt. „Hier fühle ich mich nicht mehr behindert“, mit dieser Aussage bestätigt Engeser dies eindrucksvoll.

Die UN-Konvention zum Recht für Behinderte

Die UN-Behindertenrechtskonvention – Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Laut Artikel 4, Absatz 1 der amtlichen deutschen Übersetzung verpflichten sich die Vertragsstaaten „die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern.“ Dazu gehört, so der weitere Wortlaut der Konvention, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen, und alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen.   Lesen Sie in unserer nächsten Folge am 13. November einen Beitrag über die Behindertengruppe im Judoclub Grenzach-Wyhlen.

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