Efringen-Kirchen Die vergessenen Opfer

Gudrun Gehr
In Efringen-Kirchen wird seit dem vergangenen Jahr mit Stolpersteinen an die ermordeten Juden gedacht. Foto: Daniel Hengst

Der Historiker Robert Neisen hat im Laufe der letzten Jahre viele Erkenntnisse über das Schicksal psychisch behinderter Menschen in Breisach, Lörrach und Weil am Rhein gewinnen können.

Im Ortsteil Kirchen hat eine sehr lebendige jüdische Gemeinde gelebt. Der Arbeitskreis Stolpersteine Efringen-Kirchen will an die Ermordeten erinnern. Im Herbst werden in Istein zwei weitere Stolpersteine gesetzt. Dies resultiert aus den Recherchen von Wilfried Bussohn, Mitglied des Arbeitskreises, der die beiden Opfer namhaft machen konnte. Beide befanden sich in den Transporten aus ihrem Pflegeheim in Schopfheim-Wiechs nach Grafeneck und wurden dort ermordet. Marion Caspers-Merk sagte: „Dies war eine Blaupause für die später erbauten Vernichtungslager“. Mit der Gedenkstätte Grafeneck wird an dort 10 654 getötete Menschen gedacht.

Rund 50 Gäste fanden sich zum Vortrag von Historiker Robert Neisen in der Alten Schule in Efringen-Kirchen ein, zu dem der Arbeitskreis Stolpersteine Efringen-Kirchen und der Verein für Heimatgeschichte Weil am Rhein eingeladen hatten. Hintergrund für das Referat ist die Verlegung weiterer Stolpersteine in der Reblandgemeinde. Nachdem im Vorjahr insgesamt acht Stolpersteine im Ortsteil Kirchen verlegt wurden, sollen im Herbst elf weitere Steine folgen. Zwei davon sind für die besagten Menschen mit Behinderung.

„Netzwerk der Erinnerungskultur“

Marion Caspers-Merk als Sprecherin des Arbeitskreises begrüßte insbesondere einige Aktive der Stolperstein-Initiativen aus Schopfheim und Zell im Wiesental. Diese hätten auch die Efringen-Kirchener Initiative unterstützt und wertvolle Tipps gegeben. „Nur so entsteht ein Netzwerk der Erinnerungskultur“, sagte Caspers-Merk. Und weiter: „Wichtig ist, den Opfern ihre Namen und Würde zurückzugeben“. Auch Isteins Ortsvorsteherin sprach. „Es ist an uns, für ein friedliches Miteinander zu sorgen“, sagte Daniela Britsche.

Historiker Robert Neisen sagte in seinem Referat, dass – mit wenigen Ausnahmen – die Opfer der NS-Euthanasie im lokalen Bereich die weitaus größte Opfergruppe der NS-Diktatur seien. Dennoch sei diese Gruppe weitgehend vergessen.

NS-Euthanasie ist die größte Opfergruppe

Ziel seines Vortrages sei, sie dem Vergessen zu entreißen und ihnen posthum ein Gesicht zu geben. Zunächst sprach Neisen über die Idee der geschichtlichen Hintergründe der Euthanasie. Die Ausbreitung der „Rassenhygiene“ als Idee der „positiven Erbanlagen“ fiel in eine Zeit mit imperialistischen Vorstellungen. Soziale Fragen wurden auf Probleme des „Erbguts“ zurückgeführt. Angeblich würden sich Menschen mit „niedrigwertigem“ Erbgut rascher vermehren als diejenigen mit höherwertigem. Man glaubte, die Leistungskraft einer Nation um das Ringen der weltweiten Vormacht würde sich verschlechtern, wenn man hier nicht gezielt eingreifen würde.

Dieses Gedankengut fiel in der NS-Herrschaft auf fruchtbaren Boden und wurde skrupellos umgesetzt. Eines der ersten Gesetze betraf die Organisation und Legitimation von Sterilisationen der „Erbkranken“. Die ersten Gesundheitsämter entstanden, um das Gesetz umzusetzen.

Die lokale Forschung ergab, dass auch Personen in Brombach unfruchtbar gemacht wurden, die selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Im Bezirk Lörrach wurden 467 Personen identifiziert, die sterilisiert wurden. Für Lörrach waren es 167 Personen, für Weil am Rhein 35 und für Efringen-Kirchen 13 Personen. Bis zum Kriegsausbruch wurden deutschlandweit schätzungsweise 300 000 Personen unfruchtbar gemacht.

Nach den Forschungen stammten die Opfer aus den proletarischen kleinbürgerlichen Schichten. Neisen sagte: „Man könnte sagen, das bessere Bürgertum entledigte sich derjenigen Personen, die nicht seinen Vorstellungen vom leistungsstarken Mitbürger entsprachen“.

Experimentierlabor des Holocaustes

Das weitere Referat betraf die Deportationen und Abholungen im Rahmen der „T4“-Aktion von psychisch kranken Personen aus den Pflegeheimen in Herten, Wiechs und Emmendingen. Vorangegangen waren die Erfassungen in Meldebögen „zu statistischen Zwecken“.

Tatsächlich dienten diese zur Vorbereitung von Selektionen, wo unter anderem festgestellt wurde, ob der Behinderte als „Ballastexistenz“ regelmäßig Besuch erhielt. Die Pläne wurden passend zum Kriegsbeginn umgesetzt. Neisen sagte: „Der äußere Krieg ging auch mit dem inneren Krieg einher“. Es starteten aus „planwirtschaftlichen Gründen“ die Transportbusse von Juli bis Dezember 1940.

Eine der Tötungsanstalten wurde im Schloss Grafeneck im Landkreis Reutlingen eingerichtet. Dort wurden die Personen aus den Transporten meist am gleichen Tag in einer Garage durch Vergasung mittels Kohlenmonoxid ermordet. Es habe sich ein „Experimentierlabor des Holocaustes“ entwickelt. Die Tötungsaktionen endeten Ende Dezember 1940, weil die Proteste von Kirchen und der Bevölkerung zunahmen, zum anderen weil die „Planzahlen“ der Tötungen erreicht wurden.

In Hadamar wurde weiter gemordet

Weiter gemordet wurde im hessischen Hadamar, wobei das Personal mit seinem „Expertenwissen“ von Grafeneck ebenfalls dorthin ging. Allerdings kam es weiter zu „wilden“ oder „kalten“ Euthanasien in den Pflegeheimen, wo die Insassen verhungerten oder zu Tode gespritzt wurden.

In ganz Deutschland gab es geschätzt 70 000 Euthanasie-Opfer.

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